Das schönste Türkis der Welt

Nerezine – das ist weder eine neue Orangensorte noch der Name meiner Urgroßmutter. Sondern: mein Sommerparadies. Das Dorf ist kleiner als meine Straße in Berlin. Daher kenne ich inzwischen alle Einwohner persönlich. Sie sind ohnehin leicht zu finden: Meist sitzen sie am Wasser und sehen zu, wie die Möwen auf den Wellen schaukeln. Und ich? Sitze daneben! Denn dieses Meer, das ist etwas ganz Besonderes; es wirkt auf mich wie ein Magnet. Unfassbar türkis leuchtet es in der Sonne, manchmal zeigt es auch etwas mehr Blau. Du merkst gar nicht, wie schnell beim Zusehen die Zeit verrinnt. Wie ruhig und entspannt du auf einmal wirst. Zuerst tauen die Sinnesorgane auf. Die Augen, das Gehör, die Nase. In der Stadt werden die Menschen schnell taub und kurzsichtig. Sie sehen nur Wände, Mauern und Bildschirme. In Nerezine dagegen fängst du an, die Weite zu sehen. Plötzlich hörst du der Stille zu…

Eine Insel, die heilen kann – und ausgezeichnete Strände

Nerezine liegt auf der Insel Losinj. Mit ihren Schwestern Rab, Krk und Cres gehört sie zu den Kvarner Inseln. 2500 Sonnenstunden machen diese Region zu Europas sonnigster Ecke- für mich der wahr gewordene Traum vom Süden. 11 00 verschiedene Pflanzenarten parfümieren Losinj: Sa lbei zum Beispiel, Minze, Immortelle, Rosmarin, Lorbeer, Myrthe. Die Bora-Winde sorgen dafür, dass die Meeresluft sehr klar und salzhaltig ist – diese Insel heilt. Das wussten schon die Römer. Sehr viel später, zur Zeit der Walzerkönige im 19. Jahrhundert, entdeckte dann die Wiener Gesellschaft Losinjs wohltuende Wirkung. Seebäder, Kurhäuser und Thermalanstalten entstanden. Heute veranstalten die Hotels AromatherapieWorkshops, Wohlfühlprogramme und kreieren ihre eigene Kräuter-Kosmetik. Den eigenen Lieblingsstrand zu finden, gestaltet sich weitaus schwieriger. Zu groß ist die Auswahl: Mit dem Boot bist du schnell in einer der unzähligen Buchten, die Artatore, Sunfarni oder Krivica heißen. Aber ich muss warnen! In Sachen Tourismus hinkt Losinj den Griechen und Türken gnadenlos hinterher: In den Buchten hier bist du wirklich allein – selbst in der Hochsaison. Und “Televrin”, mein Hotel in Nerezine, ist keine hochmoderne, gläserne Bettenburg, vielmehr ein liebevoll renoviertes, ehemaliges Rathaus mit 13 Zimmern und zwei Apartments direkt am winzigen Hafen. All inclusive sind das WLAN und die Dorfband, die manchmal spielt. Abends sitzen wir alle an einer Tafel, essen frischen, gegrillten Fisch, sonnengereifte Tomaten aus eigenem Anbau und trinken ein Glas “Ziahtina”- golden, leicht und zart im Geschmack. Eine Traube, die weltweit nur hier wächst. Wir tauschen Kindheitserinnerungen aus. Ich erfahre, dass man im Sommer unter dem Küchentisch schlief, dem einzigen freien Platz – weil jedes Zimmer an Gäste vermietet war … In Nerezine konzentriert man sich bis heute auf das Wesentliche: viel Herz, wenig Schnickschnack.

Zum Greifen nah liegt der Berg Televrin. Mit 589 Metern ist er die höchste Erhebung der Insel. Die Aussicht von dort oben über die Kvarner Bucht – unvergesslich. Was ich noch empfehlen kann: den verträumten Hafen von Veli Losinj. Hier drängeln sich Cafes und Restaurants. Ich mag die “Bora-Bar”: bunt bemalte Holztische, gemütliche Korbstühle und leckeres Tintenfisch-Carpaccio. Die Boote schaukeln in der untergehenden Sonne. Marco Sasso, der Chefkoch, kommt aus Italien. Das hat Tradition: Italienische Kaiser und Könige besaßen an der Kvarner Küste einst ihre Residenzen. Heute schauen die Italiener gern zum Baden vorbei: “weil sie bei sich die Algen sehen und bei uns den Meeresgrund”, sagen die Einheimischen. Das Wasser der Kvarner Bucht ist tatsächlich sehr sauber und klar. Daher sind viele Strände mit der “Blauen Flagge” der EU ausgezeichnet.

Vom Zauber der schönen Nachbarin – und Delfine am Horizont

Vier Kilometer von Nerezine entfernt, befindet sich Osor – und eine Drehbrücke, damit die Boote passieren können. Sie verbindet Losinj mit der Nachbarinsel Cres. Mit 70 Kilometern ist sie doppelt so lang wie Losinj. Überhaupt wirkt Cres anders. Rauer, zerklüfteter- nicht so lieblich und grün wie Losinj. Mir gefällt es. Die verschlungenen Pfade, knorrige Olivenbäume, zitronengelber Ginster, Steinmauern und kleine Kapellen vor denen sich die Schafe sonnen. Überall stehen Bienenkörbe. Du kannst auf uralten Hirtenwegen wandern. Am Horizont spielen Delfine. Rings um Losinj und Cres fühlen sich etwa 120 Tiere zu Hause. Sie bekamen hier 1987 ihr erstes Schutzreservat im Mittelmeer.

Von Plänen, die nicht wahr werden – aus einem traumhaften Grund

Eigentlich wollte ich noch die Insel Kek erkunden – das Weindorf Vrbnik, das sieben Jahrhunderte alt ist und auf einem 50 Meter hohen Felsen hockt. Oder die Insel Rab! Ich wollte auf den Glockenturm der Kirche Marija Velika steigen. Der gilt als beeindruckendster romanische Campanile des Mittelmeers. Ich wollte durch die engen Gassen bummeln, in den venezianisch anmutenden Palästen verweilen. Doch dann habe ich mich wieder festgeguckt: an diesem sagenhaften Meer, das eine geradezu hypnotische Wirkung auf mich hat
– in Nerezine meinem Sommerparadles –

 

Von Wladimir Kaminer
Quelle: tv14

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